"Körperlich geht es mir gut", ist die spontane Antwort von L., einer 25-jährigen Gitarristin und Musiklehrerin aus Beirut. Sie lebe in den Bergen und wäre daher sicher.
Am Dienstag, den 4. August 2020 hatten zwei Explosionen das Hafengebiet von Beirut erschüttert, insbesondere die zweite Explosion löste eine heftige Druckwelle aus, so Reuters. Weiteren Medienberichten zufolge verstarben 100 Menschen und bis zu 4.000 Menschen seien verletzt. Die Welt zeigt Anteilnahme und Nachbarländer wie beispielsweise auch Ägypten senden Hilfslieferungen. Unter anderem wurden zwei Krankenhäuser und ein Getreidespeicher zerstört. Reuters berichtet heute, dass die Getreidevorräte für den Libanon für weniger als einen Monat ausreichten. Es sei aber genug Mehl vorhanden, so dass die Versorgung nicht gefährdet sei, heißt es in offiziellen Verlautbarungen aus Beirut.
Die jungen Libanes*innen aber sind besorgt, und immer wieder wird von Hoffnungslosigkeit gesprochen. Sprachlos sei sie, erzählt L. weiter. Und es täte ihr für alle Familien der Verstorbenen leid. Aber so richtig begreifen können sie es nicht. Und sie wisse nicht so genau, wie sie helfen könne. Wenn sie nichts täte, fühle sie sich aber außen vor, und sie wolle gerne etwas tun. Daher versucht sie, ihre Freunde zu mobilisieren und sie möchten mit Verpflegung und mit Unterkunft helfen. Ihre Mutter ließe sie aber nicht aus dem Haus, denn sie hätte den Krieg und viele Krisen miterlebt und wäre besorgt.
Der Libanon ist wirtschaftlich und politisch in einer schwierigen Situation.
Dabei wurde er bislang immer als Schweiz des Mittleren Ostens bezeichnet. Mit Bergen und Meer, einer für den Mittleren Osten liberalen Kulturszene, mit Bars und Kneipen, einer High Society und schicken Designerläden. Aber auch mit Bürgerkrieg in den 70er- und 80er-Jahren, mit einem 36-Tage-Krieg in 2006, mit der Flüchtlingskrise seit 2011 mit einer Million Flüchtlingen auf vier Millionen Landeseinwohner, politischen Widerständen erneut Anfang 2020, bis im Frühjahr Corona kam. Möglich, dass es offiziell keinen Versorgungsengpass gibt, aber die Libanes*innen berichten von wöchentlich steigenden Preisen, leeren Supermarktregalen und Verdienstausfall seit Corona. Die Coronamaßnahmen, die im Frühsommer gelockert wurden, wurden gerade Anfang August aufgrund der muslimischen Eid-Al-Adha-Feiertage wieder verstärkt. Das Vertrauen in die Regierung ist gering und so bleibt die Frage, vor allem unter den jungen Libanes*innen, wie es jetzt weiter gehen soll. "Woher soll das Geld kommen, um Beirut wieder aufzubauen und das Land wirtschaftlich zu stabilisieren?" ist die alles entscheidende Frage, auf die viele keine Antworten haben.
Diejenigen, die den Krieg in 2006 als Jugendliche erlebt haben, fühlen sich vom gestrigen Unglück besonders berührt. So berichtet der Gitarrist B., 40 Jahre alt, dass sie gemeinsam noch immer vor Ort im betroffenen Stadtteil Gemayzeh nach Verschütteten suchen. Hier würden besonders ältere Leute und Singles leben, und etliche wären noch vermisst. Auch Sänger Ch. berichtet, dass man sehnsüchtig auf ein Lebenszeichen von denjenigen warte, von denen man seit gestern nichts gehört habe. Dass Krieg und Missmanagement bei den jungen Leuten Spuren hinterlassen, war bereits zu einem Musikevent im Jahr 2015 spürbar. Der Krieg war immer noch in den Köpfen. Die Musiker erzählten beispielsweise von Bandproben, die durch Bombenangriffe unterbrochen wurden. Kriegsschauplatz aus dem Nachbarland erlebte eine junge Journalistin aus dem Norden Libanons, die zusehen musste, wie, so sagte sie, nachts den Syrern die Häuser unter dem Hintern weggebombt wurden und die mit nichts als außer ihrem Schlafanzug und ihrem Leben aus den Gebäuden flüchteten.
Musiker verarbeiten solche Erlebnisse unter anderem in ihren Songs. So postete die Band Phenomy gestern auf Facebook: "Dozens of people have been killed and thousands wounded in a powerful explosion that ripped through Lebanon's capital, Beirut. Our music has always expressed our anger and grief towards injustice. With everything happening around in the world and especially in Lebanon, what happened today was a catastrophe. Enough idiocy, incompetence and mischief. We ask our Lebanese brothers and sisters from all religions and regions to stay unified so we can overcome this outrageous situation."
Von Inkompetenz sprechen sie deshalb, weil die Ursache des gestrigen Unglücks bislang noch ungeklärt ist und sie Versäumnisse bei der Regierung sehen. Es gäbe keinen Zusammenhang mit dem Attentat auf Rafiq al-Hariri am 14. Februar 2005 in gleicher Umgebung, so die offizielle Aussage aus Beirut. Explosive Stoffe seien ungesichert gelagert worden, und man würde die Ursachen aufklären. Einen politischen Hintergrund gäbe es nicht. Mit seiner Meinung, das gestrige Unglück könne ein Attentat sein, scheint Präsident Trump aber alleine dazustehen.
Die Zeitung Welt berichtet heute: "Die Bundesregierung teilt nicht die Einschätzung Trumps, wonach die Explosionen in Beirut auf eine Bombe zurückzuführen seien. Es scheine sich „um ein schreckliches Unglück zu handeln“, sagte ein Sprecher des Auswärtigen Amts am Mittwoch in Berlin. Die Bundesregierung habe dazu aber „keine eigenen Kenntnisse“ und wolle sich „nicht an Spekulationen beteiligen“. ... Auch der libanesische Regierungschef Hassan Diab sagte, 2750 Tonnen Ammoniumnitrat seien der Grund für die Detonation. Das Material, das auch zur Herstellung von Sprengstoff verwendet werden kann, sei seit sechs Jahren ohne Vorsichtsmaßnahmen im Hafen von Beirut gelagert worden."
Die Hoffnung für Beirut liegt jetzt unter anderem auf den Devisen der gut ausgebildeten, im Ausland lebenden Libanesen. Gemäß Bundesministerium für Zusammenarbeit fehlen diese Kräfte zwar im Land vor Ort. Möglicherweise wird es Beirut und der Libanon jetzt aber nur mit Hilfe aus dem Ausland schaffen. Die jungen Musiker*innen sind heute noch sprachlos und fassungslos und werden ihre Gefühle und Gedanken in neuen Songs verarbeiten. Und wie immer wird wie seit Jahren hoffentlich auch ein bisschen Mut und Zuversicht mitschwingen.
Comments