Zwischen Insta-Spots und Reflexion der Nahost-Situation
Der Kulturherbst in Kairo vereint internationale und lokale Kunstprojekte, die die Stadt in einen Schauplatz für Kreativität verwandeln. Zwischen monumentalen Installationen und experimentellen Performances entsteht ein Spannungsfeld aus Tradition, Moderne und gesellschaftlicher Reflexion.
„Forever is Now" ermöglicht Kunst im Schatten der Pyramiden
„Ein bisschen Kunst zum drüber streuen“ ist eine der Reaktionen auf die Ausstellung „Forever is Now Edition IV“. Art D’Égypte wurde von der französisch-ägyptischen Kuratorin Nadine Abdel Ghaffar gegründet. Mit „Forever is Now“ hat sie sich zum Ziel gesetzt, die Pyramiden von Gizeh als Schauplatz für moderne Kunst von ägyptischen und internationalen Künstlern zu nutzen. In der Beschreibung zur inzwischen vierten Edition heißt es unter anderem: „ Die Ausstellung reflektiert, wie Vergangenheit und Gegenwart, Tradition und Innovation miteinander verknüpft sind, und zeigt, dass Kunst als Werkzeug dient, um die menschliche Suche nach Bedeutung, Hoffnung und Identität zu ergründen. Sie schafft interaktive Räume, in denen das Publikum aktiv in den kreativen Prozess eingebunden wird, und legt gleichzeitig Wert auf interkulturellen Austausch und gesellschaftliche Teilhabe.“
Doch vor Ort entsteht ein anderes Bild. Wer die zwölf Exponate auf dem Gizeh-Plateau besucht, spürt wahrscheinlich die Magie des Weltkulturerbes. Vom Plateau aus betrachtet tauchen die November-Wolken die Pyramiden immer wieder in ein neues Licht. Der angestrebte Dialog zwischen Kunst und den Pyramiden gestaltet sich derart, dass die Pyramiden von den Exponaten eingerahmt werden oder als Kulisse dienen. Schulkinder springen zwischen den Objekten herum, und es werden tausende von Fotos und Selfies gemacht. Von menschlicher Suche nach Sinnstiftung ist nicht viel zu merken. Diskutiert wird von einigen Influencern, die sich effektiv in weißer Kleidung präsentieren, ob das TikTok-Video jetzt 15 Sekunden lang sein soll und wann der beste Zeitpunkt für den Post sei.
Bei einigen Exponaten drängt sich der Eindruck auf, dieses oder so etwas Ähnliches schon mal gesehen zu haben. Ein echter Wow-Effekt bleibt bei den ewig gleichen Themen rund um Nil-Boote, Objekte in Pyramidenform oder Flügeln zur Freiheit irgendwie aus. Neu ist „Four Temples“ des koreanischen Künstlers Ik-Joong Kang. Vier überdimensionierte, begehbare Würfel in unterschiedlichen Größen bestehen aus kleinen, frei hängenden Platten, die sich sanft im Wind bewegen. Die Außenwände sind mit dem koreanischen Volkslied „Arirang“ in Hangeul, Englisch, Arabisch und Hieroglyphen beschriftet, ein Symbol für die Verbindung von Kulturen und Epochen. Die Innenwände bestehen aus Zeichnungen von Menschen weltweit, insbesondere von Kindern und sozial Benachteiligten, die persönliche Träume und Herausforderungen darstellen. Dass es im Sand noch Friedenssymbole zum Ausgraben gegeben hätte, erschließt sich den meisten Besuchern nicht.
Neugierig macht auch „The Race“ des Ägypters Khaled Zaki. „The Race“ zeigt zwei Pferde, die zwischen sechs großen, verstreuten Rädern durch den Sand einer Ausgrabungsstätte rennen. Die Räder, die an antike ägyptische Streitwagen erinnern, sind aus Edelstahl gefertigt und symbolisieren den Wandel von Macht und Technologie. Das Kunstwerk thematisiert den Übergang von historischen Werkzeugen und Transportmitteln zu modernen technologischen Errungenschaften. Es will den Betrachter dazu einladen, über den Einfluss der Menschheit auf Fortschritt und Wissenschaft nachzudenken, während Technologie immer mehr zu einem eigenständigen Akteur im Lauf der Geschichte wird. Die Verfremdung der in der Sonne glänzenden Edelstahl-Pferde wirft tatsächlich Fragen auf. Sind es überhaupt Pferde? Die im Wüstensand versunkenen Räder könnten auch Uhren symbolisieren und wiederum auf den Wandel der Zeit hindeuten. Ein Kunstwerk, dass den Dialog mit den Pyramiden jedoch entbehren könnte.
CIAD eröffnet Downtown den Treffpunkt der Kulturen
Während „Forever is Now" vor allem durch die monumentale Kulisse der Pyramiden beeindruckt, widmet sich CIAD einem anderen Teil der Stadt – dem kosmopolitischen Erbe von Downtown Kairo.
Das Cairo International Art District (CIAD) ehrt Downtown Kairo als ein historisches und kosmopolitisches Zentrum, das sich vom Marktplatz am Nil zu einem kulturellen Hotspot entwickelt hat. Der Stadtteil ist ein Treffpunkt für Menschen und Einflüsse aus aller Welt, die Architektur, Handel und Kultur entscheidend geprägt haben. Es ist ein Symbol für Vielfalt, Innovation und den internationalen Austausch.
Auch die CIAD wird von Art d'Egypt organisiert. Doch die dazugehörige Ausstellung bietet nicht nur Miniaturen der zukünftigen Forever-is-Now-Exponate als Vorgeschmack. Kern der jährlich wiederkehrenden Kunstreihe sind blanke Gipsskulpturen als Rohlinge, wie ägyptische Katzen oder der Horus, die von verschiedenen Künstlern gestaltet werden.
In diesem Jahr stand der Skarabäus im Mittelpunkt – ein Symbol für Wiedergeburt und Schutz. Die gestalteten Werke wurden im Radio Cinema, Kairos ältestem Theater, hängend auf einer großen runden Plattform präsentiert, passend zum Thema Kreis und Wiedergeburt. Die runde Form erinnerte dabei auch an die kleinen Mistkugeln, die der Skarabäus rollt. Eine Kunstlehrerin äußerte jedoch Kritik an der Qualität der künstlerischen Ausführungen: Ihrer Meinung nach hätten ihre Schülerinnen ähnliches durch einfaches Bemalen oder Bekleben umsetzen können.
D-CAF ermöglicht moderne Kunst als Raum für Austausch und Hoffnung
„Forever is Now" und CIAD von Art d'Egypt sind nicht die einzigen Events, die kulturelle Räume in Kairo neu definieren. Als Höhepunkt des Kulturherbstes stand das D-CAF im Zentrum – das Downtown Contemporary Art Festival, das durch die Vielfalt seiner Darbietungen hervorsticht.
Das D-CAF ist das größte internationale Festival für zeitgenössische Kunst in der arabischen Welt. Es präsentiert jedes Jahr in der Kairoer Innenstadt ein vielfältiges Programm aus darstellender Kunst, visueller Kunst, Musik und neuen Medien, das internationale und lokale Künstler zusammenbringt.
Künstlerischer Leiter Ahmed El Attar betont, dass das Festival inmitten wirtschaftlicher, sozialer und politischer Herausforderungen ein Zeichen der Hoffnung setzt, indem es kulturellen Austausch und die Förderung junger Talente ins Zentrum stellt. Es verbindet internationale Innovation mit lokaler Perspektive und schafft Raum für Reflexion und Zusammenarbeit, selbst in bewegten Zeiten. Ein besonderer Schwerpunkt des D-CAF liegt auf dem Programm „Cairo Calling“, das aufstrebende Künstler aus der arabischen Region fördert. Es bietet ihnen durch Residenzen, Workshops und Präsentationen eine Plattform, um ihre Arbeiten vor einem internationalen Publikum zu präsentieren und sich mit anderen Kulturschaffenden auszutauschen.
Ein unvergessliches Highlight war „Taste Me". Die Performance verband Tanz und kulinarische Kunst auf innovative Weise, um das Publikum emotional und sinnlich anzusprechen. Die Zuschauer wurden durch eine Bandbreite intensiver Emotionen geführt – von Freude und Wut über Trauer bis hin zu einem Moment, in dem das mühsam Gekochte erbrochen wurde. Begleitet wurde die Performance von Texten und Visuals auf einem Bildschirm, der in der Bühnenmitte des Rawabet Theaters positioniert war. Den Höhepunkt markierte die provokative Frage: „Und wie schmeckt eigentlich Hunger?“, die eine Reflexion über den Beginn der Aufführung und die universelle Bedeutung von Hunger einleitete. Jede D-CAF-Performance begann mit einer Schweigeminute im Gedenken an die Opfer in Palästina, Libanon und Sudan, wodurch die Thematik noch stärker verankert wurde.
Nach der Performance gab Mohand Qader ein Interview, in dem er über die Entstehung und die Hintergründe des Stücks sprach. Die Performance, eine Zusammenarbeit von Qader und Moustafa Jimmy, kombiniert Tanz und kulinarische Kunst, inspiriert von ihrer gemeinsamen Zeit in einer Pariser Küche. Ziel war es, Geschmacksrichtungen mit Emotionen zu verknüpfen und die gesamte Bandbreite menschlicher Gefühle – von Liebe über Gewalt bis hin zu Trauer – auf die Bühne zu bringen.
Qader, der aus Kafr asch-Schaich im Nildelta stammt, wurde von seiner Familie in seinem künstlerischen Werdegang unterstützt. Er fand über Theaterprogramme zum Tanz und entwickelte seinen Stil am Centre Rézodanse in Alexandria weiter. Internationale Anerkennung erlangte er durch die Zusammenarbeit mit dem französischen Choreografen Olivier Dubois in „Itmahrag“.
Im Interview erklärte Qader, dass er „Taste Me“ als Mischung aus Kunst und Entertainment betrachtet. Emotionen seien der Schlüssel, um das Publikum zu erreichen und Fragen aufzuwerfen, wie die nach dem Hunger, die in der Performance zentral war. „Taste Me“ war eine gelungene Performance, Themen der Gegenwart emotional zu erleben und kritisch zu reflektieren.
Weniger subtil ging „Transit Tripoli“ im Falaki Theater auf die Gesellschaft in Nahost ein. In der Performance interpretiert Caroline Hatem Anna Seghers‘ Roman „Transit“ neu und überträgt die Handlung in den heutigen syrischen und libanesischen Kontext von Flucht und Migration seit dem Arabischen Frühling. Wie in Frankreich im Jahr 1940 spielt das Stück im Libanon, wo Menschen verzweifelt auf Visa oder Fluchtmöglichkeiten warten. Der Erzähler, hervorragend interpretiert von Josef Akiki, wird zu einem syrischen Geflüchteten, dessen Weg das Publikum durch die Straßen und Cafés von Tripoli begleitet. Mit nur einem Schauspieler auf der Bühne, Live-Musik von Rabih Gebeile und Videoprojektionen, welche die Atmosphäre der Stadt am Meer einfangen, bringt „Transit Tripoli" Seghers‘ Werk in die Gegenwart und lädt dazu ein, über Freiheit und die Macht von Visa und Nationalitäten nachzudenken.
Im anschließenden Artist Talk ist Caroline kritisch. Sie selbst kommt aus Beirut und erlebt den Nahost-Konflikt hautnah mit. Auf die Frage, ob Ihr Stück künstlerisch einen Einfluss auf den aktuellen Konflikt haben könne, beispielsweise durch das Schaffen von Bewusstsein, bleibt sie bescheiden. Dazu sei ihr Stück nicht groß genug. In der dann folgenden Diskussion ging es aber darum, ob es nicht gerade die kleinen Geschichten Einzelner sind, die langfristig in Erinnerung bleiben werden. Der Einwand, man müsse heute Instagram mit entsprechend Aufmerksam erregendem Content bedienen, wurde in diesem Zusammenhang zurückgewiesen. Durch Instagram flippen die Menschen durch. Erinnerungen an ein Theaterstück bleiben. Alleine schon deshalb, weil der Aufwand, in ein Theater zu gehen, wesentlich aufwendiger als das Scrollen in den Sozialen Medien ist.
Cairo Jazz Festival bietet vertraute Klänge und neue Begegnungen
Das Falaki-Theater, dem Spielort von „Transit Tripoli“, gehört zur Amerikanischen Universität Cairo (AUC). Das alte Gelände der AUC am berühmten Tahrir-Platz in Kairo ist inzwischen ein Kulturzentrum, die Vorlesungen sind auf den neuen Campus umgezogen. Ende Oktober, Anfang November war der AUC-Kultur-Campus die Heimat des Cairo Jazz Festivals.
Während D-CAF sich vor allem der zeitgenössischen Kunst und Performance widmet, bringt das Cairo Jazz Festival eine andere Facette in den Kulturherbst ein: Musik als universelle Sprache, die sowohl vertraute Klänge als auch neue Begegnungen schafft.
Das Festival leidet aber seit Jahren darunter, dass internationale Gäste vor allem danach ausgewählt werden, ob die Botschaft des Landes in Kairo bereit ist, den Auftritt zu sponsern. Für ägyptische Jazzer bietet das Festival eine der wenigen prominenten Auftrittsmöglichkeiten im Land. So standen auch die immerwährenden Namen Noha Fekry, Mina Nashat, Hany Shenouda und Massar Egbari, die Band des Festivalgründers Amro Salah, auf dem Programm. Altbewährt aber nicht wirklich überraschend. Ergänzt wurde das Programm in diesem Jahr aber durch Künstler aus Europa und Australien.
Otooto aus Dänemark stellten Songs ihres neues Albums „2nd Quake“ vor. Die Band kombiniert traditionelle Jazz-Elemente mit modernen Indie-Pop-Einflüssen und beschreibt ihren Stil als eine Mischung aus "Homeshake" und den "Jazz Messengers“. Tanzbare Beats, eingängige Melodien und improvisatorische Elemente sprechen auf unerfahrene Jazzfestival-Gänger an und sorgen für gute Laune.
Aus Deutschland waren die Jazzsängerin Laura Kipp und der Bassist Jens Loh vertreten. Sie gaben noch bis Anfang Dezember am Goetheinstitut Workshops für ägyptische Musiker. Mit Aly Eissa an der Oud und Mohamad Sawah an der Trompete und Ayman Mabrouk an den Percussions gab Laura die ersten Workshop-Ergebnisse auf dem Jazzfestival preis. Der Auftritt brachte westlichen Jazz und traditionelle ägyptische Klänge zusammen, was beim Publikum auf große Begeisterung stieß. Im zweiten Teil des Konzerts trat das ursprüngliche Laura-Kipp-Ensemble auf, bestehend aus Jens Loh am Bass, William Lecomte am Klavier und Eckhard Stromer am Schlagzeug, und präsentierte eine vielfältige Mischung aus Jazz, Pop, Soul und Chanson.
Kulturelle Teilhabe in einer Stadt der Kontraste
Der Kulturherbst zieht jährlich tausende Besucher an, das D-CAF ist beispielsweise stolz auf etwa 4.000 Besucher jährlich. Das mag ob einer Einwohnerzahl von etwa 20 Millionen in und um Kairo wenig erscheinen. Es darf aber nicht vergessen werden, dass sich Ägypten nicht nur in einer schwierigen wirtschaftlichen Lage befindet, sondern auch das Bildungsniveau der staatlichen Schulen niedrig ist. Die 10-jährige Hausmeistertochter erzählt, dass Musik und Kunst keine Unterrichtsfächer seien. Das statistische Bundesamt weist für Ägypten eine Analphabetenrate von knapp 25 % aus. Es darf davon ausgegangen werden, dass, trotz Schulbesuch, die gleiche Rate dazugerechnet werden darf von Menschen, die nur rudimentär Lesen, Schreiben und Rechnen können.
Während die Politik des Landes alles auf die Stabilisierung der Gesellschaft setzt, kommen Kunst und Musik als Möglichkeit zur Findung von Identität, Ausdruck von Emotionen, Spiegel der Gesellschaft und das Überschreiten von Grenzen viel zu kurz. Der Zugang zu kulturellen Veranstaltungen in Ägypten hängt nicht allein von Eintrittskosten ab, sondern von tieferliegenden Barrieren wie Bildungsstand, gesellschaftlichen Normen oder ethischen Vorstellungen. Selbst wenn physisch keine Tür verschlossen bleibt, gibt es unsichtbare Hürden, die Menschen von der Teilhabe an kulturellen Angeboten ausschließen – sei es durch mangelndes Wissen, soziale Ausgrenzung oder den fehlenden Bezug zur gezeigten Kunst.
Dennoch ist der Kulturherbst in Kairo ein wichtiger Bestandteil für die Gesellschaft. Es muss nicht immer die große Kunst sein, um über politische und gesellschaftliche Themen zu reflektieren. Entertainment wie die Forever-is-Now-Ausstellung ermutigt Menschen, die Pyramiden von Gizeh zu besuchen. Die entstehenden Bilder sind sicherlich diejenigen, die sich Ägypten als Selbstdarstellung vom Land wünscht. Es ist aber nicht auszuschließen, dass die Energie und die Faszination der Pyramiden die Menschen dennoch erreicht. Und internationale Künstler in Kairo zu haben, wirkt sich positiv auf das Leben in der Stadt aus. Auch dann, wenn nicht jeder moderne Tanz in seiner Tiefe verstanden wird.
Braucht Kairo einen Kulturherbst?
Obwohl die einzelnen Veranstaltungen unterschiedliche Schwerpunkte setzen – von monumentaler Kulisse über intime Performances bis hin zu musikalischen Experimenten – verbindet sie ein gemeinsames Ziel: Kunst und Austausch in einer dynamischen Stadt wie Kairo zu fördern.
Der Kulturherbst in Kairo zeigt eindrucksvoll die Vielfalt und die Widersprüche einer Stadt, die zwischen Tradition und Moderne ihren Weg sucht. Veranstaltungen wie „Forever is Now“ bieten einer breiten Öffentlichkeit Entertainment und internationale Perspektiven, während D-CAF und CIAD Räume schaffen, in denen Reflexion und Austausch möglich werden. Kulturelle Teilhabe bleibt in einer Stadt voller Kontraste dennoch eine Herausforderung. Trotz unsichtbarer Hürden beweist der Kulturherbst jedoch, dass Kunst ein wichtiger Bestandteil gesellschaftlicher Dynamiken bleibt und für Kairo wichtig ist. Ein Raum, in dem Fragen gestellt und neue Perspektiven geschaffen werden, selbst in bewegten Zeiten.
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