At least it was a day
Jeden Sommer treffen wir uns in Wacken. Promoter, Jurymitglieder, Bands, Familie und Freunde. Wir organisieren weltweit den Bandnachwuchswettbewerb für Wacken und sind im Finale des Metal Battle in Wacken auf dem Festival alle mit dabei. Ich selbst bin für die Region Naher Osten verantwortlich und brachte schon Bands aus Ägypten, dem Libanon und aus Saudi Arabien auf das größte Metalfestival der Welt. Das einzige, was uns tatsächlich alle miteinander verbindet, ist die Musik. Und zu einigen Menschen sind tiefe Freundschaften entstanden.
Dieses Jahr bewerteten wir die Bands des Finales in praller Sonne und waren daher abends müde und hungrig. Ich fand mich – eher zufällig – dann bei einem Abendessen an einem Tisch wieder, der politisch so in gar keinem Fall vorgesehen ist. Neben mir, einer deutschen Frau, verantwortlich für den Bandwettbewerb im Nahen Osten, saßen zwei Jungs unserer ägyptischen Band, der israelische Promoter und seine Frau mit am Tisch. Zwei Männer der saudischen Band bogen gerade zu uns um die Ecke, als draußen ein Feuerwerk los ging. Unser ganzer Tisch fuhr beim ersten Knall erschrocken zusammen.
Die Ägypter, weil sie alt genug sind, sich an die Revolution in 2011 zu erinnern, mein Promoter-Kollege und seine Frau ob des aktuellen Krieges in Israel. Ich, weil ich mich erschrocken habe, weil alle anderen aufschreckten. Das war sie dann wieder – die Realität des Nahen Ostens. Bislang kenne ich keinen Ort außer dem Wacken Festival, an dem Politik komplett außen vor bleibt und sich wie selbstverständlich ausschließlich Menschen begegnen.
Inzwischen sind wir alle in unsere Realitäten zurückgekehrt.
Die Deutsche Welle fasst die aktuelle Eskalation in Nahost heute treffend zusammen. Sie sagt, Israel sieht seine Angriffe auf die Hisbollah im Libanon als notwendig an, um die Sicherheit im Norden zu gewährleisten und die Rückkehr der evakuierten Israelis zu ermöglichen. Premier Netanjahu betont, dass die Hisbollah entwaffnet werden müsse, um diese Rückkehr zu sichern. Sanam Vakil von Chatham House argumentiert jedoch, dass Israel auch andere Ziele verfolge, wie die Trennung des Konflikts in Gaza von der Hisbollah-Bedrohung im Libanon und die Durchsetzung der UN-Resolution 1701. Diese fordert die Entwaffnung der Hisbollah, was bisher nicht umgesetzt wurde. Die Eskalation lenkt zudem vom fortwährenden Krieg in Gaza ab, wo keine klare Strategie für die Zeit nach dem Konflikt sichtbar ist.
Ich denke an Lilas und Yaron. Lilas ist Promoterin in meinem Team und verantwortlich für den libanesischen Metal Battle in Beirut in 2025. Yaron ist ein befreundeter Musikjournalist und Fotograf in Wacken, der nördlich von Tel Aviv mit seiner Familie in Haifa lebt. Beide werden sich auf dem nächsten Wacken Festival zwangsläufig begegnen. Wie gehen sie mit der aktuellen Situation um? Ich frage beide.
Sie schießen selbst auf christliche Siedlungen
Der Angriff Israels beschränkt sich längst nicht mehr auf die von der Hisbollah besetzte Region, sondern hat auch den Rand von Beirut erreicht. „Sie schießen selbst auf christliche Siedlungen", erzählt mir Lilas mit Entsetzen. Die Ohnmacht ist groß, und die Menschen im Libanon fühlen sich hilflos und alleine gelassen. „Wir haben keine Regierung, keine Polizei und kein Militär. Es ist niemand da, der uns hilft, und wir sind denen, die einfach auf uns schießen, ausgeliefert. Es besteht für uns keine Möglichkeit zu handeln und es ist reine Willkür, was mit uns passiert. Wir wissen nicht, was wann passiert. Ich kann nicht nach Beirut in die Stadt, weil ich nicht weiß, ob mir dann nicht eine Rakete auf den Kopf fällt. Israel hat den Iron Dome, Waffen, eine Regierung und Militär", fährt sie fort.
Lilas klingt einerseits wütend und andererseits hilflos. Wütend ist sie, weil sie versucht, ihr Leben neu zu sortieren. Sie bewirbt sich für ein Stipendium ausserhalb Libanons und wäre damit nicht die erste, die den Libanon verlässt. Ihre weiteren Bandkolleginnen und auch andere befreundete Bands sind längst im Ausland. A. ist in Canada, M. in den USA, L. meines Wissens in Deutschland. Wütend ist sie, denn sie sagt: „Immer wenn ich einen Schritt weiter gehen will in meinem Leben, bin ich diesem Land ausgeliefert". Denn die jetzigen Ereignisse sind nicht wirklich neu für sie. Im 33-Tage-Krieg in 2006 Hisbollah – Israel war sie elf, als Beirut's Hafen in die Luft flog und zu Coronazeiten Mitte zwanzig. Sie kennt Bombenangriffe, Hilfsaktionen und Aufräumarbeiten und hat mit zahlreichen weiteren jungen Menschen gegen alles protestiert. „Jetzt", sagt sie, „jetzt ist alles noch viel schlimmer, denn jetzt haben wir gar nichts mehr". Die wirtschaftliche Krise im Libanon – siehe auch meinen Artikel „Beirut auf dem Web in die Hoffnungslosigkeit" – wurde durch die Explosion des Hafens und Corona noch verstärkt.
Lilas berichtet weiter, dass die Libanesen tolle Leute wären. Sie selbst wohnt derzeit in den Bergen in der Nähe Beiruts, und alle jungen Menschen dort hätten eine Notfallhilfe für die Vertriebenen gestartet. Sie schickt mir ein Foto, auf dem zahlreiche Sachspenden zu sehen sind. Sie ist dankbar für die viele Hilfe und froh, etwas tun zu können. Das Nichts-Tun-Können und das Ausgeliefert sein wäre nach wie vor das Schlimmste.
Plötzlich wechselt sie das Thema und entschuldigt sich, dass sie Dienstag nicht am Team-Meeting teilnehmen konnte. Sie möchte unbedingt den Metal Battle in Beirut nächstes Jahr durchführen und will daher mit dem eventuellen Veranstaltungsort erstmal online verhandeln. Bis sie wieder sicher nach Beirut kann. „Die sollen uns doch alle in Ruhe lassen", meint sie zum Schluss. „Warum gehen die nicht in die Wüste und streiten sich dort? Warum lassen sie unsere Leute nicht in Ruhe? Wir wollen doch einfach nur leben".
Es ist ein ungleicher Kampf
Statt sich aber auf abgelegenen Dünen in der Wüste zu begegnen, kämpfen das israelische Militär, die Hamas und die Hisbollah mitten in dicht besiedelten Gebieten. Es ist ein ungleicher Kampf, wie mir unter anderem Prof. Dr. Michael Wolffssohn in einem Werkstattgespräch des Presseclubs München im Winter bestätigte.
Die Hamas und Hisbollah sind keine regulären Armeen, sondern Milizen und Terrororganisationen, die sich nicht an internationale Regeln des Kriegsrechts halten. Sie operieren oft aus Wohngebieten heraus und nehmen dabei bewusst zivile Opfer in Kauf. Der entscheidende Unterschied zu einem regulären Militär wie dem israelischen ist, dass Hamas und Hisbollah keine klaren militärischen Strukturen oder Rechenschaftspflichten haben.
Die Hisbollah unterstützt die Hamas aufgrund ideologischer und strategischer Allianzen gegen Israel, indem sie militärische Ressourcen teilen und koordinierte Angriffe durchführen. Dabei spielt der Iran eine zentrale Rolle, da er beide Gruppen finanziell und militärisch unterstützt, um seinen Einfluss in der Region zu sichern und Israel als gemeinsamen Feind zu bekämpfen. Während die israelische Bevölkerung durch moderne Verteidigungssysteme wie den Iron Dome vor vielen Raketenangriffen geschützt ist, fehlen der Zivilbevölkerung im Gazastreifen und im Libanon solche Schutzmaßnahmen. Dies führt zu unverhältnismäßig hohen zivilen Opfern auf palästinensischer und libanesischer Seite.
Mein Sohn hat Angst zu sterben
Der Iron Dome kann zwar zahlreiche Raketen abfangen, doch von einer entspannten Situation in Israel kann wirklich nicht gesprochen werden. Yaron postet immer dann, wenn er mit seiner Familie etwas normales unternehmen kann, das nichts mit Angriffen oder Krieg oder Angst zu tun hat, einen Ausflug beispielsweise: „Today was a day" (Heute war ein Tag). Noch in Wacken fragte ich ihn, was er damit meine. Er traue sich schon lange nicht mehr, von guten Tagen zu sprechen, er sei schon froh, wenn nichts passiere. „Today was at least a day" – damit seien sie derzeit schon zufrieden.
Zum Thema Libanon sagt er mir, dass Libanon zwar offiziell ein Staat sei. Aber die Hisbollah hätte den Libanon besetzt, wäre so etwas wie ein Staat im Staat und würde das Land der Libanesen für ihre eigenen Interessen nutzen. Er bezeichnet sie auch nicht als Terrororganisation, sondern als Armee, weil sie wesentlich besser ausgerüstet seien als die Hamas in Gaza. Die Hisbollah würde seit dem 7. Oktober sozusagen täglich auf Israel schießen mit der Begründung, die sie immer böten, wenn sie Israel angriffen: Aus Solidarität mit der Hamas.
Yaron meint, die Hisbollah würde ja im Wesentlichen versuchen, militärische Ziele in Israel anzugreifen, allerdings würden sie oft daneben schießen. Ok, so hat er es nicht wörtlich gesagt. Er berichtet aber davon, dass der Norden Israels seit Oktober des letzten Jahres evakuiert sei und die Menschen inzwischen in Tel Aviv oder Haifa lebten. Haifa sei aber auch inzwischen in der Schusslinie. Israel würde sich verteidigen und im Wesentlichen auf Artillerie und relevante Personen der Hisbollah und Waffenlager zielen. Und ähnlich wie die Hamas, würde auch die Hisbollah zivile Einrichtungen und Personen für ihre Zwecke missbrauchen und beispielsweise aus Apartments heraus schießen. Die Libanesen, die nichts mit der Hisbollah zu tun haben und einfach dort nur leben wollen, die tun ihm leid und er hat überhaupt nichts gegen diese Menschen. Und er weiß, dass Israel wesentlich besser gestellt ist als die Menschen im Libanon.
Auf der anderen Seite sieht er seinen eigenen kleinen Sohn mit neun Jahren. Yaron erklärt, dass jedes modernere Haus in Israel einen Bunker haben müsse. Dieser Bunker sei derzeit sein Büro. Weil sein Sohn Angst habe, er könne nachts den Bombenalarm nicht rechtzeitig hören und es daher nicht mehr rechtzeitig vom Kinderzimmer in den Bunker schaffen, besteht er seit Oktober darauf, auf einer Matratze im Bunker zu übernachten. Man erkläre den Kindern, dass die Hisbollah auf Israel schießen würde. Sie hören jeden Tag die Flugzeuge und Raketen. Das Schwierige wäre zu erklären, dass die Leute im Libanon selbst den Israelis gar nichts Böses wollen, sondern dass das die Hisbollah sei. Und wie Kinder so fragen, möchten sie wissen: „Warum sagen sie denen denn nicht, sie sollen damit aufhören?" oder „Warum werfen die denn die Hisbollah nicht einfach aus dem Land?". Es wäre quasi unmöglich, Kindern verständlich zu machen, wieso es einer Miliz wie der Hisbollah möglich sei, ein Land zu besetzen, um Menschen in einem anderen Land zu töten.
Auch eine kaputte Uhr geht zwei Mal am Tag richtig
Es fällt Yaron sichtlich schwer, über Netanjahu zu sprechen. Dieser Mann gehöre ins Gefängnis, und das Mindeste sei sein Rücktritt. Er wisse aber nicht, ob eine neue Regierung die Situation verbessern könne. Beide Kriege, in Gaza als auch im Libanon, müssen umgehend aufhören. Vor allem aber sollen die restlichen 101 entführten Menschen, tot oder lebendig, aus Gaza nach Israel zurück gebracht werden. Aber seit der verstärkten Eskalation mit der Hisbollah hätte niemand mehr über Gaza oder die Geiseln gesprochen. Sie, Yaron und seine Freunde, wären zu unzähligen Demos gegangen und hätten stundenlang auf den Plätzen und Straßen gestanden. Und jetzt wären diese Menschen einfach vergessen. Netanjahu hat es geschafft, die Stimmen für die Befreiung der Geiseln verstummen zu lassen. Er wiederholt nochmal, dass ihm die Libanesen leid tun und dass er wisse, dass sie leiden. Er sei aber sicher, dass sie nicht wegen Netanjahu leiden, sondern weil sie von der Hisbollah besetzt seien und die Hisbollah sie für ihre Zwecke missbrauchen würde. Eine Lösung sieht Yaron auf keinen Fall durch militärische Operationen. Das führe letztendlich zu nichts. Der Konflikt muss vielmehr durch eine weise, ausgewogene Lösung enden.
Wenn alles gut geht, werden sich Lilas und Yaron nächstes Jahr in Wacken treffen. Wenn wir Glück haben, werden sie sich als diejenigen Menschen treffen, die wissen, dass sie den jeweiligen Aktivitäten der Regierungen mehr oder weniger ausgeliefert sind. Dennoch frage ich mich, was das alles letztendlich mit den Menschen macht und welche Spuren bleiben. Ich freue mich jetzt schon auf den Tag, an dem Lilas in Beirut vor Ort mit unserem Partner für den Metal Battle sprechen kann und Yaron endlich postet:
„Today was a good day" (Heute war ein guter Tag.)
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