Dass Downtown Kairo meistens kein idyllisches Plätzchen ist, das war mir von vorne herein bewusst. In Abdeen, mitten im Leben zwischen Geschäften und Cafés habe ich Ruhe dann, wenn ich die Fenster schließe oder nach Ladenschluss, den es in Coronazeiten jetzt gibt. Möchte ich das Summen der Stadt wahrnehmen mit dem Lachen der Shopbesitzer, dem Murmeln in den Cafés, dem Straßenverkehr und dem Koran, der irgendwo immer spielt, dann öffne ich die Fenster. In einer lauen Sommernacht ist das schön, vor allem in meiner kleinen Loggia. Möchte ich Ruhe haben, dann schließe ich die Fenster, die gottlob doppelverglast und weitestgehend staub- und schalldicht sind.
Alles änderte sich vor einigen Monaten.
Direkt unter meinem Fenster in einer Passage eröffnete ein neues Büdchen. Ein Verkaufsstand vorrangig für Sonnenbrillen. Es gibt zwei Männer, die sich die Betreuung des Ladens teilen - ein jüngerer vielleicht Mitte dreißig und ein älterer, nicht unweit vom Rentenalter sofern ich das einschätzen kann. Tagtäglich öffnet der ältere der Beiden gegen 10 Uhr morgens das Büdchen und sitzt dann dort oft stundenlang, immer mit Maske. Der jüngere der Beiden versucht, vorbeigehende Passanten an der belebten Talaat-Harb-Straße auf das Büdchen in der Passage aufmerksam zu machen, meistens leider ohne Maske. Ob zur Unterhaltung oder als Marketinginstrument, das konnte ich nicht feststellen. Aber tagtäglich wurde oft zehn Stunden am Stück über Lautsprecher aus dem Büdchen heraus Musik gespielt. In einer Partylautstärke, die ich selbst bei geschlossenen Fenstern nicht ignorieren konnte. Online-Unterricht oder Konzentration auf das Schreiben war mir unmöglich. Es hat auch nichts geholfen, selbst das Radio oder den Fernseher anzudrehen, die ägyptische Partymusik war stete Begleitung. Drei Mal sprach ich persönlich mit dem jüngeren Shopbesitzer, zwei Mal rief ich vom Fenster hinunter, man möge die Lautstärke leiser stellen. Verständnis bei dem etwas älteren Herrn, ein hämisches Grinsen bei dem jüngeren. Nachdem ich der Lautstärke nicht entfliehen kann, suchte ich nach einer Lösung. Ich weiß, dass mir jemand vor etlicher Zeit, als ich eine Wohnung direkt neben drei Moscheen hatte, mal gesagt hat, man könne sich über Lärmbelästigung beschweren.
Ein Lärmschutzgesetz regelt das Vorgehen bei Lärmbelästigung
Als erstes musste ich recherchieren, ob der Büdchenbetreiber möglicherweise so laut Musik spielen könne, wie er wolle. Dem ist überhaupt nicht so. Aus dem Jahr 1994 gibt es ein Umweltgesetz Nr. 4, das Grundlage für ein 5-Jahres-Plan (2007 bis 2012) war, um den Lärmpegel in Kairo zu reduzieren. Dass das kein einfaches Unterfangen ist, kann auf der Internetseite der Umweltbehörde von Ägypten in einem Dokument nachgelesen werden.
Beteiligt waren die folgenden Ministerien:
- Ministerium für Stadtentwicklung und Gebäude
- Innenministerium
- Ministerium für zivile Luftfahrt
- Ministerium für Religion
- Ministerium für Bildung
- Ministerium für Tourismus
- Ministerium für Außenhandel und Industrie
- Ministerium für Gesundheit und Bevölkerung
- Ministerium für Transportwesen sowie das
- Ministerium für Kommunikation und Informationstechnologie
Für jedes Ministerium werden eine Art To-Do-Liste aufgeführt, was als Beitrag zur Lärmreduzierung zu tun sei. Beispielsweise müsse das Ministerium für Religion darauf achten, dass Lautsprecher von Moscheen nur eingeschränkt eingesetzt werden dürfen. Ferne wurde ein Netzwerk mit 30 Lärmpegel-Messstationen in Kairo installiert. Über die Ergebnisse der Messungen im Freien und in Gebäuden wird in diesem Dokument zumindest keine Auskunft gegeben. Allerdings wird deutlich, dass man sich des Themas bewusst ist.
Für mein Thema ist auch nicht das Umweltgesetz Nr. 4 maßgeblich, sondern Gesetz Nr. 45/1949, das natürlich immer wieder aktualisiert wird. Bei Gesetz Nummer 45 handelt es sich um ein Lärmschutzgesetz mit folgender Zielsetzung gemäß der International Resources Group:
Schutz der Umwelt vor Lärm; Regelung der Installation und Verwendung der Lautsprecher
Das war genau das, was ich gesucht hatte. Und fand tatsächlich die Regelung, dass Shopbesitzer für die Verwendung von Lautsprechern eine Lizenz benötigen. Andernfalls sei eine Strafzahlung zwischen 100 und 300 EGP (derzeit zirka 5 und 15 Euro) fällig. Zudem wird der Lautsprecher konfisziert. Bei Wiederholung kann die Strafzahlung verdoppelt und der Shop für sieben Tage von der Regierung geschlossen werden.
Die Frage war, ob und wie ich von diesem Recht Gebrauch machen konnte.
Auf der Internetseite des ägyptischen Umweltministeriums wurde ich fündig. Im Jahr 2018 berichteten mehrere Medien, unter anderem Al Ahram, darüber, dass durch den Minister des Inneren eine neue Beschwerdestelle eingeführt wurde. Es wurden zwei WhatsApp-Nummern angegeben sowie die Hotline 16528. Das Umweltministerium wolle so die Bürger ermutigen, Meldung abzugeben, beispielsweise wenn Müll wild abgeladen wird. Die Regierung würde dann dafür sorgen, dass der illegal abgeladene Müll abgeholt würde. Die ersten Beschwerden trafen vorrangig ein aus Cairo, Giza, Qalioubiya, Alexandria, Sharqiya und Daqahliya. Es wurden aber auch kritische Stimmen gehört. So berichtet Al Ahram über Mohamed Abdallah, einen Regierungsangestellten, der diese Initiative nicht besonders sinnvoll findet. Sein Argument ist, der Müll sei überall ersichtlich und offensichtlich, die Regierung müsse darüber nicht gesondert informiert werden.
Ich versuchte mein Glück und wurde positiv überrascht.
Als sogar an einem Freitagmorgen, an dem die Stadt eigentlich wunderbar ruhig ist, laute Partymusik in meine Wohnung drang, habe ich ein Video gemacht und damit eine WhatsApp an die angegeben WhatsApp-Nummer gesandt. Ich bekam zu meinem großen Erstaunen am gleichen Tag Antwort, ich solle meine Daten, Adresse und Passnummer angeben, dann würde man die Beschwerde verfolgen. Ich war zunächst verunsichert, erinnerte mich dann aber daran, dass alle Daten aufgrund meines Visums und zahlreicher Flugbuchungen sowieso bei den Behörden vorlagen und wagte den Schritt. Nichts passierte. Eine Woche später hakte ich nach. Ich bekam dann den Hinweis, ich solle meine Beschwerde schriftlich einreichen. Auf www.shakwa.eg. Auch das tat ich noch vor Weihnachten. Die Seite steht auf Arabisch und auf Englisch zur Verfügung und ein bisschen musste ich mich durchwühlen. Aber nach der Registrierung klappte alles wunderbar und ich verlor die Sache über die Feiertage in Deutschland aus den Augen.
Eher zufällig, als ich einem Freund davon erzählte, schaute ich mal wieder in das Beschwerdeportal. Und siehe da, man war tätig geworden. Es wurde auch alles schön dokumentiert in einem pdf-Dokument mit Bildern und Tätigkeitsnachweis. Wir waren beide mehr als positiv überrascht. Ich erfuhr jedoch von meinem Bekannte, dass er gehört hätte, dass sich die ägyptische Regierung derzeit verstärkt auch um Verbraucherschutz und Verbraucherthemen kümmere. Ich finde, das ist eine sehr positive Entwicklung.
Tatsächlich höre ich nur noch gelegentlich Koranverse in einer mehr als akzeptablen Lautstärke. Dagegen könne man auch nichts machen, verrät mir ein ägyptischer Freund. Und so sind beide Parteien hoffentlich zufrieden. Ich konnte bis Januar in Ruhe unterrichten und kann jetzt in meiner Loggia in Ruhe schreiben. Der Büdchenbesitzer hat Lautsprecher für seine Koranverse. Den jungen Typen finde ich nach wie vor recht unsympathisch, der ältere Herr, der so geduldig vor seinem Büdchen sitzt und brav die Maske trägt, tut mir manchmal ein bisschen leid. Ich hatte schon überlegt, ob ich ihm ein Instagram-Account einrichten und betreiben soll, um sein Büdchen ein wenig in Schwung zu bringen. Trau ich mich aber nicht. Denn ein klein wenig schlechtes Gewissen habe ich ja doch.
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