top of page
  • Autorenbild@Nika

Jasmin lernt nicht schwimmen


Wer Gelegenheit hatte, mein freitags-Magazin zu lesen, der konnte bereits Jasmin kennenlernen. Die kleine Tochter unseres Hausmeisters. Sie geht in die dritte Klasse, wohnt mit ihrer Familie in den Angestelltenzimmern auf dem Dach unseres Hauses, einem ehemaligen britischen Hotel, und geht auf eine öffentliche, ägyptische Schule. Im Sommer fährt sie mit den Eltern zur Familie nach Assuan in den Süden des Landes. Stolz zeigte sie mir Fotos auf Papas Handy, auf denen sie in einem Boot sitzt und auf und im Nil spielt. Es stellte sich aber schnell heraus, dass weder Jasmin noch ihre älteren Schwestern oder ihre Mutter schwimmen können. Auch schaukeln oder turnen sind Dinge, die ihr fremd sind. Aber sie liebt Ballett, so wie die meisten kleinen Mädchen. Aber auch Ballettstunden kennt sie nicht. Mit ihrem neuen, pinken Badeanzug gehen wir in das Kinderbecken im Sportclub. Ins tiefe Wasser kann sie natürlich nicht. Ich spreche mit meinen Nachbarn, welche Möglichkeiten es gäbe, dass Jasmin schwimmen lernen kann. Meine Nachbarn haben einen Sohn, der etwas älter ist als Jasmin. Er hat im Nachbarclub, im Jugendclub auf Zamalek, schwimmen gelernt. Dort spielt er auch Fußball. Während der Gezira-Club der wohlhabenden Bevölkerung und ausländischen Mitgliedern vorbehalten ist und das über die Mitgliedspreise entsprechend gesteuert wird, steht der sogenannte Jugendclub einer breiteren Bevölkerungsschicht zur Verfügung. Mit einem Eintritt von 25,– ägyptischen Pfund, derzeit etwa 50 Cent, gibt es viele, die sich das doch ab und zu leisten können. Der Jugendclub ist vielleicht nicht ganz so schick wie der Gezira-Club, aber im Prinzip tun die Menschen in beiden Clubs das gleiche. Sie treiben Sport, sie treffen sich zum Smalltalk oder zum Kaffee und die Eltern fiebern mit, wenn ihre Kinder ein Turnier haben oder sich erstmals auf die Rollschuhbahn trauen. Der Platz des Gezira-Clubs wird größtenteils vom Golfplatz belegt, sodass Schwimmen, Tennis, Reiten, Turnen und Golf dort die vorrangigen Sportarten sind. Das Sportangebot im Jugendclub ist größer, denn einen Golfplatz gibt es dort nicht. Dafür aber eine Hockeymannschaft und ein Rehazentrum. Mein Nachbarjunge erklärt mir: „Da (im Rehazentrum) kannst Du trainieren wenn Dein Bein ab oder kaputt ist." Das Fußballtraining kostet mit zwei Trainings pro Woche monatlich 355,– Pfund, etwas mehr als 7,– Euro derzeit. Das Monatsticket für den Vater, um den Sohn jeweils zu begleiten, nochmal 205,– Pfund, etwa 4 Euro.


In diesem Club hat mein Nachbarsjunge auch schwimmen gelernt und wir haben die Idee, dass Jasmin dort auch schwimmen lernen könne. Als ich ein Fußball-Match mit meinen Nachbarn mit anschaue, erkundigen wir uns im Schwimmbad. Kein Problem - vier Wochen Schwimmkurs, zwei Mal wöchentlich, kosten 350,– Pfund, 7,– Euro, das Ticket für eine Begleitperson 205,– Pfund. Jasmin würde gerne schwimmen lernen, und ich denke, ihr wäre egal, in welchem Club. Ich bitte meinen Nachbarn, Jasmins Vater anzurufen und ihm unsere Idee zu erklären. So von ägyptischem Vater zu ägyptischen Vater. Allerdings werden wir enttäuscht, denn Jasmin darf nicht schwimmen lernen. Es gäbe keine Begleitperson für Jasmin, weil die ältere Schwester jetzt in einem Shop arbeiten würde und außerdem möchte die Mutter es nicht. Für Jasmin tut mir das sehr leid, aber als Ausländerin darf ich mich da nicht einmischen. Allerdings ist auch mein Nachbar etwas frustriert. Er drückt aus, was sich auch in zahlreichen offiziellen Studien, unter Soziologen und in der Forschung bestätigt wurde - für die Entwicklung von Jasmin und ihren sozialen Aufstieg - immerhin möchte sie Muhandissa, Ingenieurin, werden - reichen gute Noten in der Schule nicht aus. Im Club, so mein Nachbar, könnte sie neue Freunde finden und sich in neuem sozialem Umfeld bewegen, neue Wörter und Begriffe lernen und Barrieren ihres eigenen sozialen Umfelds überwinden.


Der Soziologe Pierre Bourdieu unterscheidet beispielsweise den Habitus der Notwendigkeit vom Habitus der Distinktion. Auf den Seiten der Bundeszentrale für politische Bildung erklärt Aladin El-Mafaalani, Professor für Soziologie, was damit gemeint ist:

In prekären Lebensverhältnissen aufzuwachsen bedeutet zugespitzt, dauerhaft mit vielfältigen Knappheiten umgehen zu müssen, sowohl in Bezug auf materielle als auch immaterielle Ressourcen und Bedürfnisse: Mangel an Geld und Besitz, aber womöglich auch an sozialen Beziehungen, Fürsorge, Handlungsoptionen, Entwicklungsimpulsen und sozialer Anerkennung stellen die Betroffenen tagtäglich vor Herausforderungen, die sie oft nur situativ, also kurzfristig bewältigen können. Dabei müssen sie mit den wenigen vorhandenen Ressourcen möglichst viele Bedürfnisse befriedigen. Das kann nur gelingen, wenn sie abwägen, ob eine Handlung unmittelbar nutzenstiftend beziehungsweise auch notwendig ist. Kurzfristigkeit und Nutzenorientierung sind typische Merkmale dieses Handlungsmusters, das als Management von extremer Knappheit (El-Mafaalani 2014) oder – mit dem Soziologen Pierre Bourdieu (1987) gesprochen – als Habitus der Notwendigkeit bezeichnet werden kann.

Der Habitus der Distinktion (Erhabenheit) wird von El-Mafaalani als „Mangement des Überflusses" bezeichnet. Kurz zusammengefasst: Wer sich nicht mit Alltagssorgen beschäftigen muss, kann langfristig denken und aus einer Fülle von Alternativen entscheiden. Zudem zeigt El-Mafaalani auf, was getan werden muss, um sich sozial weiter zu entwickeln: Die Änderung des Habitus. Dazu ist persönliche Entwicklung ebenso notwendig wie das sich Distanzieren von der sozialen Herkunft und das Wagnis, sich sozial zunächst im Ungewissen zu bewegen, weil die nächste soziale Stufe noch nicht erreicht wurde. Zur persönlichen Entwicklung und dem Distanzieren der sozialen Herkunft gehört eben auch, Barrieren zu überwinden und Neues zu lernen. Zu den Selbstverständlichkeiten einer höheren sozialen Schicht zählen dann beispielsweise Grundkenntnisse in Kunst und Musik oder auch Schwimmen mit dazu.


Während El-Mafaalani im Wesentlichen auf das deutsche Bildungssystem und die Entwicklungsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen aus verschiedenen sozialen Herkünften eingeht, fühle ich mich an den Alltag in Ägypten erinnert. Tagtäglich ist hier zu beobachten, dass die meisten Menschen vorrangig damit beschäftigt sind, ihren Alltag zu meistern. Mit einer hohen Jugendarbeitslosigkeit, einer irren Inflation, einem Währungsverfall, einer prekären wirtschaftlichen Lage und einem niedrigen Bildungsniveau. Für Schwimmen, Kunst und Kultur haben viele einfach keine Kraft mehr. Auch dann nicht, wenn Veranstaltungen kostenlos sind oder der Schwimmkurs ein Geschenk zum Eid-Fest wäre. Für Jasmin bedeutet das nicht nur, dass sie sich im Pool derzeit immer noch nicht über Wasser halten kann. Es bedeutet auch, dass sie diese soziale Barriere weiterhin alleine meistern muss. Ein weiteres Hindernis wird, neben ihrer persönlichen Entwicklung, die Distanzierung ihrer sozialen Herkunft sein. Familie und soziales Umfeld haben hier in Ägypten einen noch viel höheren Stellenwert als in Deutschland. Und dass Jasmin kein Einzelfall ist, bestätigt eine Geschichte, die mir meine Freundin erzählte. In Sakkara, am Stadtrand Kairos, gab es in einem Dorf ein kluges Mädchen, das sehr gute Noten hatte. Die Schule empfahl, das Mädchen möge das Abitur machen und dann studieren. Nicht die Eltern, sondern die gesamte Dorfgemeinschaft hat sich jedoch dagegen entschieden und dafür gesorgt, dass das Mädchen zügig heiratet.


Wenn Traditionen und Gewohnheiten nicht durch Überzeugung verändert werden, dann können sie nur dann durch neue ersetzt werden, wenn die alten Bräuche aussterben. Für Jasmin bedeutet das, dass sie so viel kennenlernen und lernen sollte wie möglich. Auch, wenn sie selbst nicht schwimmen lernen darf und vielleicht auch nicht studieren wird. Wenn sie selbst einmal Kinder hat, wird sie sich dann aber vielleicht daran erinnern, dass sie gerne schwimmen gelernt hätte und es ihren eigenen Kindern dann ermöglichen. Daher nehme ich sie gerne ab und zu weiterhin mit in den Club, gehe mit ihr in den Pool, lasse sie etwas Tennis spielen und wir gönnen uns einen Burger und ein Eis. Schade finde ich es aber trotzdem. Und stehe kopfschüttelnd und ratlos davor, wenn Schülerinnen und Schüler, denen die Eltern eine bessere Bildung dank Privatschule ermöglichen, nichts anderes im Sinn haben, als den ganzen Tag zu schreien, zu toben und zu lärmen anstatt ihre Chancen zu nutzen. Traurig ist, dass die Eltern dieser Kinder nicht verstanden haben, dass sie ihren Kindern damit viele soziale Barrieren erhalten und offene Türen nicht erkannt werden. Geld zu haben darf nämlich nicht mit sozialem Aufstieg verwechselt werden. Jasmins Vater ist kein armer Mann. Aber wie wichtig beispielsweise Schwimmen für Jasmin wäre, kann ich ihm leider nicht vermitteln.

bottom of page